In Sachen Kaminski
Datum: Sonntag, 17.Juli. @ 03:20:03 CEST
Thema: Menschen- und Schulrechtliches
Film über das Recht von Eltern mit geistigen Defiziten am Kind
Auf diesen Film konnte man warten - oder auch hoffen. Sein Stoff liegt in der Luft, da Kindsein und Kindheit in einer Gesellschaft, die sich der Kinderlosigkeit zuneigt, nicht mehr selbstverständlich sind. Es gibt mehr Fragen als Gewissheiten, und man kann darin ein Drama sehen. Fragen, die bei der Bildung von Kindern beginnen und bei der Elternbindung aufhören: Ist Kindergarten besser als zuhause bei der Mutter? Ist die Einschulung mit sechs zu spät? Wer sind die wichtigsten Bezugspersonen in Patchworkfamilien?
Sprachlich nicht korrekt
Und noch eine Frage: Was ist das Beste für ein Kind, das in seiner Entwicklung zurückbleibt, weil es Eltern hat, die, in der Sachverständigensprache "geistige Defizite" aufweisen, die aus Pippi Langstrumpf nur sehr zäh vorlesen, die weder den Genitiv noch Verben sprachlich korrekt beherrschen? Sie sagen nicht: Spielst du mit mir? Sie sagen: Tust du mit mir spielen? Sie wissen nicht, wie man sich gegen eine Gesellschaft durchsetzt, die die Selbstverständlichkeit im Umgang mit geistig defizitären Eltern, verloren hat.
Daraus entsteht das Drama. Und Stephan Wagner führt es in seinem Film In Sachen Kaminski ins Extrem. Es beginnt harmlos. Der Arzt, der die Familie Kaminski gut kennt, kommt ins Haus, weil Lona, die fünfjährige Tochter hustet. Die Kaminskis leben in sehr kleinen Verhältnissen. Und sie haben geistige Defizite. Sie sagen: "Tust du mit mir spielen?" Er ist Hilfsarbeiter auf dem Schrottplatz. Aber sie lieben ihr Kind in einer idealen Weise, wie es die dramatische Zuspitzung beansprucht.
Der Arzt macht sich Sorgen. Lona hustet nicht nur. Sie kann die Zahlen drei und fünf nicht unterscheiden. Eine Familienhelferin kommt ins Haus. Sie kontrolliert die Verhältnisse, erzieht die Kaminskis und ihr Kind. Sie spielt Memory mit Eltern und Kind. Kann Lona bei Eltern bleiben, die sich bei Memory dermaßen anstellen?
Das Drama nimmt seinen Lauf, Zug um Zug. Vom Jugendamt wandert der Fall, der plötzlich einer ist, zum Amtsgericht. Den Eltern wird das Aufenthaltsbestimmungsrecht ihres Kindes entzogen. Lona kommt in ein Kinderheim. Die Eltern kommen, das eigene Kind besuchen. "Sie haben jetzt eine Stunde Besuchszeit, danach können Sie Lona in einem Monat wiedersehen". Während der Besuche im Heim stehen Sachverständige, die Familienhelferin, Pädagogin um die Familie herum. Die Eltern sollen Lona nicht mehr berühren, damit sie sich leichter abnabeln kann. Aus dem Heim kommt Lona zu Pflegeeltern. Sehr wohlhabende, sehr kultivierte Leute in einem sehr mondänen Haus. Sie lesen Pippi Langstrumpf in einem Rutsch vor. Sie können sich ein Pferd für die neue Tochter leisten. Sie sind, wenn man so will, haarsträubend überzeichnet.
Keine Frage: In Sachen Kaminski, dieser auf einem authentischen Fall beruhende Film, besitzt bei aller erzählerischen Ruhe, aller Reduziertheit der Bilder, aller funktionalen Konzentration der Mittel, das Potential des Plakativen.
Hier die blöden, dort die bestsituierten Eltern. Hier die grausame Maschinerie der Ämter, Behörden und Gerichte. Dort die junge Anwältin, die sich der Kaminskis annimmt und wie eine Löwin für das Recht der Herzensbindung vor den Ansprüchen der Bildungsvoraussetzung streitet. Sie geht mit den Kaminskis bis zum Bundesverfassungsgericht. Sie verliert - und geht zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, wo sie gewinnt. Lona kommt nach Hause zurück zu den Eltern mit den geistigen Defiziten.
Brecht'scher Stationenbericht
Es hätte ein üblicher deutscher Problemfilm werden können, wie das Fernsehen ihn dutzendweise hervorbringt, mit vielen Diskussionen, vielen Erklärungen. Aber es ist etwas ganz Anderes geworden: Ein Melodram im Gewand eines Brecht'schen Stationenberichts. Das Melodram zielt auf Pathos, auf den schicksalshaften Überschuss der Leidenschaft. Der Bericht setzt sie der Kälte der nüchternen Erzählhaltung aus. Auf dieser Spannung beruht das unerhörte ästhetische Gelingen des Films.
In Sachen Kaminski stellt hohe Ansprüche an das Drehbuch und mindestens so hohe an die Darsteller. Juliane Köhler und Matthias Brandt verkörpern das himmelschreiend verzweifelte Elternpaar mit der Definitiv-, Verb- und Wissensschwäche. Sie spielen und zeigen, dass sie spielen. Sie zeigen, wie es im schlimmsten Fall für eine deutsche Familie laufen kann, die ins Räderwerk fürsorglicher Belagerung des Staates gerät. Und sie zeigen, dass die Liebe zwischen Eltern und Kindern zu den bedingungslosen Leidenschaften gehört.
Für 88 Minuten, die der Film von Stephan Wagner dauert, ist dies eine fraglose Selbstverständlichkeit, neben der die anderen Fragen verblassen.
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und das Urteil des EGMR im zugrundeliegenden authentischen Fall:
BVNL
2002 RECHTSSACHE KUTZNER ./. BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Urteil zur Klage Nr. 46544/99, Strassburg, 26. Februar 2002
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